Test
Guido Müller hat bislang 156 deutsche Meistertitel erkämpft.
Der 80-Jährige gehört zu den schnellsten Rentnern der Welt. Statt zur Rückenschule geht er fast täglich auf die Laufbahn.
Von Julia Rosner und Sarah Schött
76,16 Sekunden – so lange benötigt Guido Müller für die 400-Meter-Distanz. Damit hat der 80-jährige Leistungssportler aus München Anfang des Jahres den Europarekord geknackt. Einziges Manko an dem Erfolg: In seiner Altersklasse M80 konkurriert der Senior nur noch mit wenigen Sportlern. Der Platz auf dem Siegertreppchen ist ihm deshalb fast immer sicher.
„Wenn die Konkurrenz schwach ist, macht es nicht mehr so viel Spaß. Der Reiz des Wettkampfs geht verloren“, erklärt der Rentner in seinem Haus in München einige Wochen nach dem er den neuen Rekord aufgestellt hat. Vergangenes Jahr bei den Deutschen Meisterschaften ist er auch die 200 Meter Hürden gelaufen – als Einziger. „Das war ein komisches Gefühl. Ich dachte, hoffentlich komme ich durch und bleibe nicht hängen. Alle im Stadion haben auf mich geschaut.“
Der Erfolg ist ihm nicht zugeflogen
Müller ist es schon gewohnt, Besuch von Reportern zu bekommen. Groß ist das öffentliche Interesse an dem 80-jährigen Leistungssportler. Angefangen hat alles, als Müller elf Jahre alt war. In Kornwestheim bei Stuttgart aufgewachsen, zeigte sich der Schuljunge von dem nahegelegenen Sportplatz mit Laufbahn fasziniert und trat in den dortigen Sportverein ein. Sechs Jahre später wurde er zum ersten Mal württembergischer Meister. Darauf folgte der süddeutsche Meistertitel. Neben der 400-Meter-Distanz entdeckte er auch den Hürdenlauf für sich. „Auf den Rhythmus kommt es an. Der lag mir einfach im Blut“, erklärt er heute. Dennoch sei ihm der Erfolg nicht zugeflogen. Vielmehr habe er jahrelang hart dafür trainiert.
Nachdem er die Qualifikation für die Olympischen Sommerspiele 1964 in Tokio knapp verpasst hatte, beendete er seine Leistungssportkarriere. Er ging für einige Jahre in die USA und nach Italien, wo er als Schuhhändler arbeitete. „Der Sport hat damals keine große Rolle mehr in meinem Leben gespielt.“ Stattdessen habe er viel gearbeitet, seine heutige Ehefrau kennengelernt.
Anfang der 1980er-Jahre kam er in Kontakt mit dem Sportverein Vaterstetten, der ein spezielles Trainingsprogramm für Senioren angeboten hat. Er begann wieder mit dem Training. „Eigentlich wollte ich nur für mich ein wenig laufen und auf Sportabzeichenniveau trainieren“, erzählt er. Es kam anders. 1983 nahm er erstmals an den deutschen Seniorenmeisterschaften teil – in der Leichtathletik beginnt die Seniorenklasse ab 30. Er gewann in der Altersklasse M45 über 200 und 400 Meter. Er lief deutsche Seniorenbestzeit. „Das waren meine schönsten Siege. Da war ich noch unbekannt. Plötzlich kommt da einer daher und schnappt den Favoriten den Titel weg.“ Bis heute hat Müller 156 deutsche Meistertitel gewonnen. Auch mit 80 Jahren nimmt er noch regelmäßig an Wettkämpfen teil.
Ältere Menschen treiben mehr Sport
„Ältere sind heute selbstbewusster, aktiver und flexibler“, erklärt Ute Blessing-Kapelke vom Deutschen Olympischen Sportbund. Wie eine Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) des Robert-Koch-Instituts zeigt, hat besonders das sportliche Engagement der über 60-Jährigen in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Ein Grund dafür: Wer sich mindestens zwei Mal pro Woche sporlich bewegt, dem prophezeien Ärzte weniger Herzprobleme und Gelenkschmerzen im Alter. Auch das Risiko für Diabetes oder chronische Krankheiten sei bei regelmäßigem Sport geringer. „Untersuchungen belegen, dass 70-Jährige von heute körperlich und geistig so fit sind, wie 65-Jährige es vor 30 Jahren waren“, so Blessing-Kapelke.
Während die meisten Senioren zur Rückenschule oder zur Aquagymnastik gehen, gibt es immer wieder vereinzelt Sportler wie Müller, die auch im gehobenen Alter noch auf Leistungsniveau trainieren. Statt in die Volkshochschule geht Müller jeden zweiten Tag auf die Laufbahn oder in den Wald. Auch bei Regen oder Kälte schlüpft er in seine Sportschuhe, die älter sind als einige seiner Freunde im Verein, und rennt los. Manchmal läuft er auf einem kleinen Kiesweg vor seinem Haus. Dann stoppt er die Zeit, um ganz genau zu sehen, ob er sich verbessert oder verschlechtert hat. Seine Werte hält er in einem Buch fest.
Aber nicht nur seine Trainingszeiten und -ergebnisse hat der 80-Jährige genauestens notiert. In seinem Büro gibt es jede Menge Erinnerungen an seine Erfolge. Überall hängen Medaillen und Fotos. Diese mit Müller anzuschauen, ist wie eine kleine Weltreise. „Das hier war in Lyon. Hier waren wir bei der Weltmeisterschaft in Finnland.“ So geht es weiter, von Land zu Land, von Meisterschaft zu Meisterschaft. Alles hat er fein säuberlich notiert, auf jedem Bild stehen die entsprechenden Daten. Doch Müller hat nicht nur Bilder, wie er gerade den Staffelstab übergibt oder eine Hürde meistert. Er hat zum Beispiel auch ein Foto mit Fürst Albert von Monaco. Oder mit Usain Bolt. „Neben dem sehe ich wirklich klein aus!“
Doch auch an dem Spitzensportler geht das Alter nicht spurlos vorbei. Das Leistungsniveau sei nicht mehr so hoch wie noch vor ein paar Jahren. „Die anderen merken das natürlich auch. Jetzt verliere ich gegen Leute, da war ich früher, übertrieben gesagt, schon bei der Brotzeit als die ins Ziel kamen.“ Ende des Jahres wolle er mit dem Leistungsssport aufhören. Denn dem Senior ist bewusst: „Der Sport, den ich treibe, ist keineswegs altersangepasst.“ Ein Sturz – beispielsweise beim Hürdenlauf – kann für ihn lebensgefährlich sein. Erst vor Kurzem hat er sich den Ellenbogen gebrochen. „Die Motorik lässt nach, auch auf der Bahn“, sagt Müller.
„Das ist auch eine Sache der Ästhetik.“
Immer wieder muss er sich medizinischen Tests unterziehen. Hinzu kommt, dass sein Herz durch den jahrelangen Hochleistungssport fast doppelt so groß ist wie das seiner Altersgenossen. Auch deshalb könne er nicht einfach mit dem Sport aufhören. „Man baut dann sofort gravierend ab.“ Das eigene Ego spiele allerdings auch eine große Rolle. „Viele Sportler in meinem Alter können nur schwer loslassen“, sagt er. Auch wenn die Leistung nicht mehr stimmt, würden sie nicht aufhören zu trainieren. „Bei manchen sieht das einfach nicht mehr gut aus. Das ist auch eine Sache der Ästhetik.“
Neben dem Ego ist auch der Ehrgeiz ein wichtiger Faktor. „Wenn man keinen Ehrgeiz hat und nicht seine beste Leistung bringen will, dann wird es auch nichts.“ Man müsse eben auch mental fit sein. Geist und Körper gehörten zusammen. „Man liest oft, dass Wettkämpfe im Kopf gewonnen würden. Das ist keine falsche Aussage, das kann ich bestätigen“, erklärt der Leichtathlet und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Allerdings spielen die Beine bei uns schon auch eine Rolle.“