Der Weg aus Einsamkeit und Wohnungsnot

Test

Jede sechste Seniorin ist gefährdet, in Armut zu fallen. Ein Verein hilft Rentnerinnen in München, günstig zu wohnen und bietet Gemeinschaft.

Von Maren Breitling und André Wielebski

In einer grau-weiß gestreiften Bluse lehnt Anne Müller am übervollen Bücherregal in ihrer Wohnung. Es war bis vor Kurzem die drei- oder vierfache Menge an Büchern, aber sie musste aussortieren, erzählt Müller* mit ruhiger Stimme. 2014 starb ihr Mann. „Ich war in einer persönlichen starken Krise“, erinnert sich die 68-Jährige. Der darauffolgende Aufenthalt in einer psychosomatischen Rehaklinik war für sie wie ein Bruch mit ihrem bisherigen Leben. Sie fragte sich, wie sie zukünftig leben möchte. Eins war ihr klar: Allein leben und einsam sein – das will sie auf keinen Fall.

Um sich die Miete der bis dahin gemeinsamen Wohnung weiter leisten zu können, musste sie in der Rente weiterarbeiten. Irgendwann reichte auch das nicht mehr und sie musste sich eine Alternative überlegen: Online stieß sie auf den Verein „Nachbarschaftliches leben für Frauen im Alter“, der für Frauen wie Müller Hilfe bietet.

Anne Müller erzählt von ihrem Weg zum Verein.

Die Frauen in der Wohngruppe in der Arnulfstraße sind zwischen 60 und 68 Jahren alt. Müller ist eine von zehn Frauen, die in einer Einzimmerwohnung in einem Neubau nahe der Innenstadt residieren. Das Gebäude hat auch einen Gemeinschaftsraum für Gruppentreffen.

Anne Müller (mitte) und zwei Bewohnerinnen der neuen Gruppe. (Foto: Maren Breitling)

Insgesamt kostet ihre neue Wohnung 530 Euro warm. Hier zahlt Müller
360 Euro weniger Miete als in ihrer alten Wohnung. Ein bisschen Kunst, viele Bücher, eine Couch und ein Holzstuhl mit Wiener Geflecht aus Rattan brachte sie mit. „Von den Möbeln aus der alten Wohnung konnte ich fast nichts mitnehmen. Deswegen sparte ich die vergangenen Jahre zwanghaft. Weil ich wusste, dass ich mir viel Neues anschaffen muss.“

Für Kulturwissenschaftlerin Irene Götz sind Frauen wie Anne Müller kein Einzelfall. Über durchschnittlich 700 Euro Rente verfügen Frauen in München. Anders als häufig vermutet, sind Götz zufolge Viele betroffen, die ihr Leben lang in Vollzeit gearbeitet haben. „Das sind Frauen, die einen mittleren Bildungsabschluss haben. Sie arbeiten als Krankenpflegerin oder Versicherungsangestellte.“

Mehr als 16 Prozent der Frauen über 65 Jahren sind laut Statistischem Bundesamt armutsgefährdet. Ihre Renten liegen im Bundesdurchschnitt bei 705 Euro. Da bleibt in Münchner Verhältnissen nicht viel übrig.

Bislang eine triste Aussicht

Der Gemeinschaftsraum sieht noch kahl aus: An den Wänden hängen keine Bilder und an den Fenstern keine Gardinen. Das soll sich ändern. Die Frauen packen hier jeden Monat bis zu vier Stunden an. Für die Gemeinschaft.

Im Gemeinschaftsraum tauschen sich die Vereinsdamen penibel über die Sitzkissen aus – von den grünen Filzstücken sind alle schwer enttäuscht. Auch das Geschirr war das Ergebnis eines stundenlangen Auswahlprozesses. Christa Lippmann ist die Vorsitzende des Frauenvereins und sitzt auch mit dabei. Neben der Vermittlung von günstigen Wohnungen spielt Gemeinschaft eine große Rolle in der Vereinsarbeit. Darum ist der Kaffeetisch äußerst ordentlich gedeckt: Schlichtes Geschirr, Croissants und Strudel, Margeriten in kleinen Vasen.

Wohlfühlen auch im Alter

„Die Grundlage für das Wohlbefinden ist eine Wohnung“, sagt Lippmann. Der Mietmarkt sei in München und deutschlandweit eine Katastrophe. „Das ist eigentlich ein politischer Skandal, weil die Bundesregierung für Baugesetze zuständig ist.“ Die meisten Frauen in den Wohngruppen sind geschieden, ein paar verwitwet, aber eins haben alle gemeinsam: Alleine können sie sich eine Wohnung in München auf Dauer nicht leisten.

Die Vorsitzende des Vereins Christa Lippmann. (Foto: Maren Breitling)

Täglich erreichen Lippmann ein bis zwei Anrufe von Seniorinnen. „Wegen ihrer Einsamkeit leben manche Frauen hinter dem Mond.“ Wer in einem Wohnprojekt leben will, muss einige Voraussetzungen erfüllen. Die Frauen müssen modern, kommunikativ und vital sein. Auch ein Internetzugang und eine Mailadresse sind ein Muss. Der Meinung ist zumindest Lippmann. Sie ist beim ersten Anruf, das sagt sie selbst, schroff zu den Anruferinnen. „Um zu testen, wie flexibel sie sind.“

Die Gruppen werden auch von der Psychologin Angela Lang betreut. Für sie gibt es bei der Auswahl der Gruppen aber keine „falschen“ Frauen. Die potenziellen Bewohnerinnen müssten sich jedoch selbst fragen, ob sie mit unterschiedlichen Charakteren umgehen könnten. Wenn die neuen Wohnungen verteilt werden, übernimmt Chefin Lippmann die erste Auswahl der Bewerberinnen.

Anschließend treffen sich die Frauen über ein halbes Jahr regelmäßig in Gruppensitzungen, die von Lang geleitet werden. „In diesem halben Jahr spüren die Frauen recht gut: Passt das für mich? Ist mir das zu eng?“, erklärt Lang. Wenn alle unter einem Dach wohnen, betreut die Psychologin die Bewohnerinnen eineinhalb Jahre lang und trainiert mit ihnen, wie sie auch bei Konflikten miteinander umgehen sollten.

Anne Müller in ihrem Lieblingsstuhl. (Foto: Maren Breitling)

Wenn es Müller doch einmal zu viel werden sollte, zieht sie sich gerne in ihre kleine Wohnung zurück. Neben den vielen Büchern sind auch ihr altes Sofa und ihr Lieblingsstuhl mit umgezogen. Dort kommt sie zur Ruhe. Nicht einsam, sondern gemeinsam mit anderen Frauen – für die nächsten Jahrzehnte ist Anne Müller hier zu Hause.

* Name von der Redaktion geändert.