Test
Kaputte Rolltreppen, überfüllte Fahrstühle, wirre Schilder:
Im öffentlichen Nahverkehr wird wenig Rücksicht auf ältere Menschen genommen. Dann werden aus Kleinigkeiten unüberwindbare Hürden.
Von Victoria Förster und Christoph Brüwer
Fragend steht eine ältere Dame am Fuß der Rolltreppe und blickt nach oben. Eben ist sie am Münchner Marienplatz aus der S-Bahn gestiegen. Sie möchte ins Rathaus. Doch die lange Rolltreppe vor ihr läuft in die falsche Richtung. Der Frau mit ihrem Gehstock müssen all die Schilder, Hinweise und Tunnel wie ein Labyrinth vorkommen. Im Minutentakt fahren hier S- und U-Bahnen gleich auf mehreren Ebenen ab. Verwinkelte Tunnel verbinden die unterschiedlichen Gleise. Die Seniorin weiß nicht, wie sie ohne Rolltreppe nach draußen kommen soll.
Wie ihr geht es vielen, gerade älteren Menschen. Oft stehen sie fragend vor der Flut an Schildern und suchen nach Hilfe. „Festzustellen, welche Treppe oder Rolltreppe wohin führt, das ist nicht optimal gekennzeichnet“, findet auch Reinhard Bauer. Als Vorsitzender des Seniorenbeirats der Stadt München weiß er, wie wichtig eine gute Beschilderung in ausreichender Größe für Seniorinnen und Senioren ist. Und auch aus seiner eigenen Erfahrung am Marienplatz kann der 68-Jährige sagen, dass die Beschilderung in vielen Fällen noch ausbaufähig ist: „Mir passiert es immer wieder, dass ich mich verirre.“ Dabei ist der Marienplatz in seinen Augen eine der guten Stationen. Hier habe die Stadt schon einige Hindernisse beseitigt.
Ein Passant spricht die ältere Dame an. Er hakt sich bei ihr unter und zeigt ihr den Weg zur passenden Rolltreppe. Sie bedankt sich. Langsam, auf ihren Stock gestützt, macht sie sich über den Bahnsteig auf den Weg. Die Frau hat Glück: Wäre sie auf einen Aufzug angewiesen oder die Rolltreppe defekt, hätte es für sie keinen Weg hinauf zum Rathaus gegeben. In diesem Fall hätte sie den nächsten Zug bei seinem Halt einmal durchqueren müssen, um auf die andere Seite des Bahnsteigs zu gelangen. Dort finden sich weitere Rolltreppen und ein Aufzug.
Das U-Bahn-System in der Landeshauptstadt sei nach und nach so gewachsen, sagt Oswald Utz, Behindertenbeauftragter der Stadt München.
Jetzt weitere Aufzüge an einzelnen Stationen einzubauen sei oft nicht möglich, erklärt Utz. Eine Situation, mit der sich eingeschränkte Menschen abfinden müssten.
Von den 150 S-Bahn-Stationen im Gebiet des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds (MVV) werden nach Angaben der Deutschen Bahn zurzeit etwa 115 barrierefrei erreicht. Das heißt: Fahrgäste kommen dort komplett ohne Stufen von der Station zum Bahnsteig und in den Zug. Die übrigen Stationen sind für Menschen mit eingeschränkter Mobilität nur schwer oder gar nicht nutzbar. Darunter zum Beispiel das Isartor mitten in der Münchner Innenstadt, wo es keinen Aufzug gibt. Besser ist die Lage bei den U-Bahn-Stationen, für die die Stadtwerke verantwortlich sind. Laut Angaben der MVV sind alle 100 U-Bahnhöfe barrierefrei erreichbar.
Wie kommen ältere Menschen im öffentlichen Nahverkehr zurecht?
Wer aber im Alter nicht mehr so gut zu Fuß ist, hat Schwierigkeiten. Auch Seniorenbeirat Bauer nimmt wegen Knieproblemen ungern die Treppe. Diesmal funktionieren die Aufzüge am Marienplatz alle. Bauer wechselt die Bahnsteigseite und macht sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Dieser befindet sich in einem Gang parallel zum Bahnsteig. Auf dem Boden stehen Pfützen. Es stinkt nach Urin. Die gelblichen Kacheln an der Wand sind an einer Stelle bereits abgeschlagen. Hier will sich niemand aufhalten. Leider dauert es oft minutenlang, bis der einzige Aufzug kommt – der häufig bereits überfüllt ist.
Genau wie Seniorinnen und Senioren oder Menschen mit Behinderung sind auch Schwangere und Eltern mit Kinderwagen auf den Fahrstuhl angewiesen. „Da kommt es immer wieder zu Engpässen, weil hier sehr viel Verkehr ist und im Vergleich dazu die Aufzüge nicht schritthalten“, erklärt Bauer. Schnell geht da gar nichts. Häufig müssten Menschen mit Rollatoren oder Rollstühlen mehrere Bahnen vorbeifahren lassen, weil sie zu voll seien oder zu schnell wieder abfahren, bestätigt auch Behindertenbeauftragter Utz.
Fühlen sich alte Menschen im öffentlichen Nahverkehr aufs Abstellgleis gestellt?
Nein, sagt Utz. Aber zu gewissen Tageszeiten sei es für mobilitäseingeschränkte Menschen nicht möglich, Bus und Bahn zu nehmen.
Bauer ist sich sicher, dass der ÖPNV in Zukunft immer seniorenfreundlicher wird: „Ich habe jetzt 60 Jahre Erfahrung damit und ich muss sagen: Es wird immer besser.“ Seine Forderungen nach verständlichen Durchsagen und Zugängen, die auch mit einer Einschränkung noch selbstständig zu bewältigen sind, bleiben. Städte, in denen der Nahverkehr barrierefrei ist, werden seit Jahren von der Europäischen Union mit dem Access City Award ausgezeichnet.
Vorbildlich barrierefrei gestaltete Städte werden seit Jahren etwa mit dem Access City Award der Europäischen Union ausgezeichnet. So belegte zum Beispiel Wiesbaden 2016 den zweiten Platz.
Die Seniorin hat inzwischen – dank der Hilfe der Passanten – die richtige Rolltreppe gefunden. Doch sie ist verunsichert. Bevor sie sich auf den angeblich richtigen Weg zum Rathaus macht, fragt sie lieber noch einmal nach.