Ein Bund voller Verantwortung

Test

Arbeiten nach der Rente ist ein steigender Trend. Einige müssen, andere wollen. Manfred Patzke, 78 Jahre, fühlt sich zu jung für den Ruhestand.

Von Eva Bernarding und Barbara Zeidler

Leises Klimpern begleitet die schnellen Schritte, eine Tür fällt ins Schloss, es ist 19.30 Uhr an einem Dienstag und Manfred Patzke dreht seine übliche Runde. Im Hintergrund dudelt Kaufhausmusik. Der 78-Jährige stoppt – ein kurzer Plausch an der Backtheke: „Hallo, heute auch da?“ – „Ja, ja, und morgen auch und übermorgen“, sagt Patzke, lacht und eilt weiter zur nächsten Tür. Der Senior mit schwarzer Schirmmütze und metallener Helmut-Kohl-Brille arbeitet in einem Supermarkt in Unterföhring am Stadtrand Münchens. Er sperrt nach Ladenschluss die Türen ab und stellt die Alarmanlage scharf. Fünf Tage die Woche, 43 Stunden im Monat.

Manfred Patzke liebt seinen Job und ist froh, gebraucht zu werden. (Foto: Eva Bernarding)

Dazu gekommen ist er eher zufällig. „Wir sind hier mal hingefahren zum Einkaufen“, erzählt Patzke, dessen grauer Schnurrbart sich beim Reden immer wieder nach oben und unten bewegt. „Irgendwo hing ein Zettel mit ‚Wir stellen ein.‘ Und dann habe ich gedacht: Frag doch mal. Aber das war nur eine Floskel. Regale auffüllen wollte ich nicht. Und dann hat der Chef gesagt: Ich habe was ganz Spezielles für Sie.“ Seit gut einem Jahr ist er jetzt dabei.

Die Armen können nicht mehr arbeiten

Das Schönste an der Arbeit sei für ihn, dass er gebraucht werde und dass er gut mit den Kollegen auskomme. „Sonst würde ich das hier nicht machen. Es macht mir Spaß.“ Damit gehört er zur Mehrheit. Das zeigen die aktuellen Zahlen des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA). Demnach geben 70 Prozent der arbeitenden Rentnerinnen und Rentner an, einer Arbeit nachzugehen, weil sie Spaß am Beruf haben. Außerdem ist es vielen wichtig, eine Aufgabe zu haben und in Kontakt mit Menschen zu bleiben. Knapp 40 Prozent der Befragten arbeiten zudem, um ihre finanzielle Situation aufzubessern.

Prof. Dr. Frerich Frerichs (Foto: privat)

Frerich Frerichs, Fachgebietsleiter „Altern und Arbeit“ am Institut für Gerontologie an der Universität Vechta, erklärt, woran das unter anderem liegt: „Die, die relativ arm sind oder die das Geld eigentlich bräuchten, die können meist nicht mehr arbeiten. Sie sind oft schon erwerbsunfähig oder finden keinen Arbeitsplatz mehr. Insofern ist die Rentenarbeit im Moment nicht prioritär Ausdruck von Altersarmut.“

Im Supermarkt setzt Manfred Patzke seine Schließrunde fort. Etwas Wichtiges darf bei dem gelernten Elektrotechniker nie fehlen: sein dicker, bunter Schlüsselbund. Den hält er fest in seiner rechten Hand.

Manfred Patzke zeigt stolz seinen Mitarbeiterausweis, den Schlüssel lässt er dabei nie los.
(Foto: Barbara Zeidler)

Zielsicher zückt er den passenden Schlüssel, dreht ihn bis zum Anschlag. Ein kräftiges Rütteln und ein stummes Kopfnicken verrät: Diese Tür ist zu. Von Montag bis Samstag sind die Ein- und Ausgänge des Supermarkts sein Revier. Nur mittwochs gönnt er sich eine Auszeit. Dann trifft er seine Musikerfreunde und gibt Lieder auf seiner steirischen Harmonika und dem Akkordeon zum Besten. Langweilig wird dem 78-Jährigen nie.

Patzke begutachtet die Jalousie der Kühlung.
(Foto: Barbara Zeidler)

Laut Frerichs gibt es einige Rentnerinnen und Rentner, die nach Beginn des Ruhestandes in ein Loch fallen. Patzke hingegen wusste immer etwas mit seiner Zeit anzufangen. 25 Jahre lang hat er an der Universität Wuppertal die Alarmanlage gewartet und mit Fehlalarmen und nächtlichen Einsätzen viel erlebt. Seit er im Supermarkt arbeitet, kommen einige kuriose Geschichten hinzu: „Kurz vor Ladenschluss kam einmal ein Papa mit seiner Tochter, nahm noch etwas aus der Kühlung raus. Ich fragte: ‚Sind sie fertig?‘ ‚Ja.‘ Um acht Uhr habe ich die Jalousien der Kühlregale heruntergelassen. Plötzlich sah ich so eine Beule in dem Ding. Stand der Papa noch unter der Jalousie.“ Ein Schaden von 5000 Euro. Trotzdem muss er bei der Erinnerung lachen.

Ruhestand erst mit 110

Dass Patzke mit 78 Jahren noch arbeitet, ist nicht gängig. Das ist eher ein Phänomen der ersten Jahre nach dem Ruhestand. „Die Erwerbsquoten gehen ab einem Alter von 70 Jahren deutlich zurück“, so Frerichs. Das belegen auch die Zahlen der DZA. Gut ein Fünftel der Seniorinnen und Senioren zwischen 60 und 69 war im Jahr 2014 in Deutschland erwerbstätig. In der Gruppe der 70- bis 85-Jährigen waren es nur noch knapp sieben Prozent. „Dann steht die Familie plötzlich stärker im Vordergrund, der Ehepartner oder die Kinder. Oder das eigene Wohlbefinden. Dann weiß man gar nicht mehr, dass man überhaupt mal gearbeitet hat, mal überspitzt ausgedrückt.“

Patzke denkt noch lange nicht ans Aufhören. Er will den Job machen, solange er Spaß daran hat. Wenn es nach ihm ginge, hat er noch einige Jahre vor sich: „Ich will 110 Jahre alt werden, denn 100-Jährige gibt es schon genug.“  Um 21 Uhr fällt auch die letzte Tür ins Schloss. Ein lautes Piepsen verrät, dass nun alles verriegelt ist. Manfred Patzke lächelt. „Das ist der beste Ton des Abends.“

Manfred Patzke bei seiner Schließrunde. (Videos: Barbara Zeidler und Eva Bernarding)

Datenquelle: © GeroStat – Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin. DOI 10.5156/GEROSTAT
Deutscher Alterssurvey (DEAS) – 1996, 2002, 2008, 2014